Der Bildungsausschuss informierte sich vor Ort über die Gründe für Kanadas Erfolge in der Bildungspolitik:
Vom 9. bis 15. September informierten sich Mitglieder des Bildungsausschusses des Schleswig-Holsteinischen Landtages über das kanadische Schulsystem, das im PISA-Vergleich regelmäßig vor Deutschland liegt und unter anderem wegen der Integration zugewanderter Schülerinnen und Schüler als vorbildlich gilt. Exemplarisch wurden die Provinz Ontario und die Stadt Toronto, mit 77.000 Zuzügen 2018 die am stärksten wachsende Stadt Kanadas, ausgewählt. Auf dem Programm standen die Besuche unterschiedlicher Institutionen und Fachgespräche mit Wissenschaft, Politik und Praxis.
In Vielem konnten sich die sozialdemokratischen Reiseteilnehmer bestätigt fühlen. Martin Habersaat, bildungspolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion und von Beruf Gymnasiallehrer: „Es gibt in Kanada ein Einheitsschulsystem ohne Sortierung nach der vierten Klasse. ‚Well-Being‘ – aus das Sich-Wohlfühlen in der Schule wird neben Leistungsförderung und Chancengerechtigkeit als deren Auftrag verstanden. Und nicht einmal Konservative würden das in Kanada als ‚Kuschelpädagogik‘ verunglimpfen.“ Fraktionsübergeifend geteilt wurde die Erkenntnis, dass gelingende Bildung und die Arbeit der Lehrkräfte einen sehr hohen Stellenwert in Kanada genießen. Eine Lehrkraft darf nicht mehr als 180 Schülerinnen und Schüler im Jahr haben.
Inklusion wird als die Einbeziehung aller Schülerinnen und Schüler, egal welcher Herkunft oder welchen Leistungsstandes, gesehen. „Da waren wir in Schleswig-Holstein in der letzten Legislaturperiode auch schon. Vielleicht kommen wir da bald wieder hin.“ In den ersten acht Jahren lerne alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam.
Gemeinsames Fazit von Kai Vogel, Heiner Dunckel und Martin Habersaat (alle SPD):
Vielfalt wird als gesellschaftliche Normalität betrachtet. Die Kultur ändert sich mit den Menschen, die dazu kommen. Fremdenfeindlichkeit findet kaum politischen Zuspruch, weil sich die Mehrheit der Menschen der eigenen Unterschiedlichkeit bewusst wird.
Höflichkeit im Umgang miteinander vermeidet Verletzungen. Man spricht von den „First People“ und niemand beschwert sich, dass es früher anders hieß. Man zeichnet Toiletten für das dritte Geschlecht aus, und niemand macht sich darüber lustig.
Well-Being ist als pädagogisches Ziel anerkannt. Schülerinnen und Schüler können dann am erfolgreichsten sein, wenn sie sich wohl in ihrer Haut fühlen. In allen Schulen und Hochschulen ist „Well-Being“ ein großes Thema, das von niemandem als Kuschelpädagogik verunglimpft wird.
„We’re all Canadians“. Wer gerade erst hinzu gekommen ist, ist ein „New-Canadian“. Aber er gehört schon dazu. In der Schule wird ein Tutor mit gemeinsamem Bezug gesucht, fehlender Unterrichtsstoff wird in einem individuell zugeschnittenen Programm nachgeholt.
Der Regelfall in Kanada ist längeres gemeinsames Lernen, das wird von allen politischen Akteuren auch nicht in Frage gestellt. In diesem Punkt fühlen wir uns bestätigt.
Wir gehen davon aus, dass die Erfahrungen dieser Reise in unsere zukünftige Arbeit und Anträge einfließen werden.
Auszüge aus meinen persönlichen Notizen:
Längeres gemeinsames Lernen
In kaum einem Land gibt es eine so große Selektionstradition wie in Deutschland. Schaffe ich es aufs Gymnasium? Darf ich auf dieser Schule bleiben? Werde ich versetzt? Fragen, die bei manchen deutschen Schülerinnen und Schülern für Angst und schlaflose Nächte sorgen, kennt man in Kanada gar nicht.
Migration und Integration
Das kanadische Nationalverständnis ist auf dem gesellschaftlichen Glauben an eine ethnisch-kulturelle Vielfalt aufgebaut (Löser, S.256). Der Begriff dessen, was Kanada als Nation ausmacht, verändert sich mit den verschiedenen Immigrationsströmen (Löser, S. 257). Offenbar wurde die englischsprachige Version der Nationalhymne deswegen umgetextet. „We’re all canadians!“ die meinen das wirklich. Kommentar im Konsulat: „Fremdenfeindlichkeit ist hier kein erfolgreiches politisches Konzept; mehr als die Hälfte der Menschen in Toronto wurde nicht hier geboren. Fremdenfeindliche Politik wäre schlicht nicht mehrheitsfähig, weil es so viele Wählerinnen und Wähler mit Migrationshintergrund gibt.“
Es werden keine Institutionen des Nationalstaats, z.B. nationale Feiertage oder die Nationalkultur des Herkunftslandes unreflektiert übernommen und in Kanada weitergeführt (Löser, S. 261). Der Kulturbegriff ist dynamisch, es gibt eine Bereitschaft zu Veränderungen auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft. Die Anerkennung kultureller Gewohnheiten findet allerdings ihre Grenzen, wenn kulturelle Praktiken und Handlungen die Rechte anderer Menschen verletzen. Dann wird ein neuer Aushandlungsprozess begonnen (Löser, S. 262). Große Höflichkeit vermeidet Verletzungen, „I’m sorry!“ ist der meistgehörte Satz. Zugewanderte sind „New Canadians“ und es macht niemandem etwas aus, zu einer sichtbaren Minderheit (visible minority) zu gehören. Viele Gesprächspartner erzählen gleich bei der Vorstellung, die seien z.B. italienischstämmige Kanadier. (Wohingegen im deutschen Klima der „Leitkultur“ die Frage, woher man eigentlich komme, eher als Aussage verstanden wird: jedenfalls bist du keiner von uns!). Es wird dazu ermuntert, die eigene Muttersprache zuhause zu sprechen. Zum Well-Being gehört eben auch, sich mit den eigenen Großeltern unterhalten zu können.
Die kanadische Staatsbürgerschaft ist vergleichsweise leicht zu bekommen, die doppelte Staatsbürgerschaft eine anerkannte und weit verbreitete Lösung.
Jessica Löser: Der Umgang mit kultureller und sprachlicher Vielfalt an Schulen: ein Vergleich zwischen Kanada, Schweden und Deutschland, Frankfurt a.M. 2010
Inklusion
Seit 1986 gibt es in Kanda Schulen für alle. Inklusion wird, wie es von der UNESCO 2005 auch gemeint war, als Prozess verstanden. Als Weg zu einem Ziel. „Selbst die Kategorisierung von Kindern in der Schule bringt keine homogenen Klassen hervor.“ (Nier, S.2)„Warum muss ein Kind g ut genug für eine Schule sein? Sollte es nicht eher anders herum sein?“ (Nier, S.3)
Zum Well-Being-Konzept gehört auch, dass alle Schülerinnen und Schüler sich in den Curricula der Fächer wiederfinden müssen.
André Nier: Inklusion in Kanada und Deutschland: Möglichkeiten zur Verbesserung von Inklusion in Deutschland
Aufgeschnappt:
„Was immer man einem Lehrer beibringt, ist binnen sechs Monaten verschwunden, wenn er an einer schlechten Schule landet.“ (University of Ontario)
„It’s about knowing the kids!”
“Care about relationships.”
“Engage them!”
“Ich brauche zugewandte und zuversichtliche Lehrkräfte.“
„Guck, wer in deiner Klasse ist, nicht, wer darinnen sein sollte.“ (Lehrerin am Jarvis Collegial Institute)
„Leadership-Development: Leute müssen Dinge tun, wenn keiner guckt.” (Totonto District School Board)
Termine:
Montag, 9. September
Deutsches Generalkonsulat in Toronto
Treffen mit Generalkonsul Thomas E. Schultze
German International School Toronto
York University
Stadtrundgang
Dienstag, 10. September
Legislative Assembly of Ontario
Treffen mit Ontarios Bildungsminister Stephen Lecce
Treffen mit Bildungspolitikern unterschiedlicher Fraktionen
School of Continuing Studies, University of Toronto
Mittwoch, 11. September
Jarvis Collegial Institute
Royal Ontario Museum
Ontario Principals’ Council
Donnerstag, 12. September
Toronto District School Board
Ontario Institute for Studies in Education, University of Toronto
Ontario College of Teachers
Freitag, 13. September
World Education Services of Toronto
University of Toronto Schools
Native Child and Family Services