Martin Habersaat blickt auf die Inklusionsberichte 2011, 2014 und 2020:
„Eine inklusive Schule ist offen für alle jungen Menschen. Sie richtet ihren Unterricht und ihre Organisation auf eine Schülerschaft in der ganzen Bandbreite ihrer Heterogenität aus. Diese Heterogenität bezieht sich nicht nur auf Behinderung oder sonderpädagogischen Förderbedarf. Sie steht generell für Vielfalt und schließt beispielsweise die Hochbegabung ebenso ein wie den Migrationshintergrund oder unterschiedliche soziale Ausgangslagen.“ Dieses Leitbild einer inklusiven Schule formulierte die letzte Landesregierung in ihrem Inklusionsbericht 2014. Im Bericht der aktuellen Landesregierung taucht dieses Leitbild nicht mehr auf. An vielen Stellschrauben wird jetzt zurückgedreht. Martin Habersaat, bildungspolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion: „Inklusion ist Menschenrecht. Schleswig-Holstein war auf dem Weg zur Umsetzung dieses Menschrechts schon vergleichsweise weit vorangeschritten. Es war seit 2014 Konsens, dass es jetzt nicht mehr um eine Steigerung der Quantität, sondern der Qualität gehen muss. Dann kam eine Bildungsministerin, die in Hamburg ebenso wie in Schleswig-Holstein Wahlkampf gegen Inklusion geführt hat, die zwar sagt, Inklusion sei Aufgabe aller Lehrkräfte, bei der ‚alle Lehrkräfte‘ dann aber eben nicht die an Gymnasien sind.“
Zwar gebe es auch Lichtblicke im aktuellen Bericht, etwa die ausführliche statistische Grundlage, das Bestreben nach einem landesweit einheitlichen Vorgehen in der Diagnostik und die Ankündigung der Einrichtung eines Landesförderzentrums Autismus, insgesamt gingen mit diesem dritten Inklusionsbericht jedoch viele Fortschritte verloren. Martin Habersaat: „Im ersten Bericht hatte der damalige Bildungsminister Klug (FDP) noch geschrieben, Inklusion sei kostenneutral umzusetzen. Mit dem zweiten Bericht gab es den landesweiten Konsens, dass es ohne zusätzliche Ressourcen nicht geht. Und eben das Bekenntnis zur inklusiven Schule mit dem Blick auf alle Schülerinnen und Schüler. Für die aktuelle Bildungsministerin ist ein ‚Inklusionskind‘ nun wieder eines mit Behinderung.“ Inklusion werde als etwas verstanden, das nur Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf betrifft und schon gar nicht die Gymnasien. Die Zahl der Schülerinnen und Schüler in Förderzentren steigt (Inklusionsbericht, S.15), die Zahl in inklusiven Maßnahmen sinkt. Es gibt keine Haltung des Ministeriums zu Reform der Schulbegleitung in einzelnen Kreisen. Die Zukunft der Schulassistenz ist weiter offen, ein Gutachten, auf dessen Grundlage diese geklärt werden sollte, wird jetzt schon seit über einem Jahr zurückgehalten. Das Ministerium hat über 200.000 Euro in dieses Gutachten investiert und tut nun nichts, während viele Schulassistenz-Stellen noch immer befristet sind.“
Nachdem Grundschulen bereits heute weitgehend inklusiv arbeiten, steigt die Exklusionsquote nach Klasse 4 an. Habersaat führt das auch auf die Wiedereinführung der schriftlichen Schulartempfehlung, die Trennung der Lehrkräfteausbildung nach „Ständen“ und andere „rückwärtsgewandten Maßnahmen“ zurück. „Der Gedanke des Sortierens wird wieder gestärkt“, kritisiert Habersaat, der selbst ausgebildeter Gymnasiallehrer ist. Die Gymnasien würden bei der Ressourcenvergabe bevorteilt, bei neuen Programmen zur Förderung begabter Schülerinnen und Schüler kämen Gemeinschaftsschulen gar nicht mehr vor. Dafür wird der Blick beim Thema „Gewalt an Schulen“ zu Unrecht auf sie fokussiert. Bei den Fachkräften, die es für die Inklusion braucht, sei man heute weniger wählerisch: „Interessierte mit und ohne Erfahrung“ können es werden (Inklusionsbericht, S.32). Habersaat: „Für Inklusion braucht es Haltung, Ressourcen, Qualifizierung und die Mitnahme Betroffener. Nichts davon gibt es momentan in ausreichendem Maße.“
Links:
Inklusionsbericht 2020
„Bericht zum Stand der Inklusion im schulischen Bildungsbereich“ (Drucksache 19/1913)
Inklusionsbericht 2014
„Inklusion an Schulen“ (Drucksache 18/2065)
Inklusionsbericht 2011
„Bericht zur landesweiten Umsetzung von Inklusion an Schulen“ (Drucksache 17/1568)
Leitbild inklusive Schule aus dem Bericht 2014:
„Eine inklusive Schule ist offen für alle jungen Menschen. Sie richtet ihren Unterricht und ihre Organisation auf eine Schülerschaft in der ganzen Bandbreite ihrer Heterogenität aus. Diese Heterogenität bezieht sich nicht nur auf Behinderung oder sonderpädagogischen Förderbedarf. Sie steht generell für Vielfalt und schließt beispielsweise die Hochbegabung ebenso ein wie den Migrationshintergrund oder unterschiedliche soziale Ausgangslagen.“
„Eine inklusive Schule verlangt substantielle Veränderungen im Verständnis von Schule, aber auch in ihrer Ausstattung und in ihrer Organisation, damit sie ihren pädagogischen Auftrag erfüllen und von allen Beteiligten uneingeschränkt akzeptiert werden kann. Dieser Gestaltungsauftrag richtet sich jedoch nicht nur an die Schulen und die schulischen Akteure selbst. Vielmehr stellt die Verwirklichung von Inklusion eine gesamtgesellschaftliche Verpflichtung dar, zu deren Erfüllung Bund, Länder und Kommunen gemeinsam beizutragen haben.“
Foto:
Martin Habersaat in Kiel (2020)
Fotograf: Jan-Christoph Schultchen, Rechte freigegeben