Wie umgehen mit dem kolonialen Erbe?


Landtagsanhörung zeigt auch Bezüge zu unserer Region auf: 

Die Große Koalition hat sich in ihrem Koalitionsvertrag die „Aufarbeitung des Kolonialismus“ als einen Schwerpunkt ihrer Kulturpolitik vorgenommen. In Hamburg legte ein 2014 eingesetzter Beirat zur Dekolonisierung Hamburgs gerade ein Eckpunktepapier für ein neues Erinnerungskonzept vor. Und in Schleswig-Holstein stellte der SSW eine Große Anfrage zum Umgang des Landes mit seinem Kolonialen Erbe. Dazu führte der Bildungsausschuss des Landstages nun eine Anhörung durch. Martin Habersaat, Landtagsabgeordneter aus Reinbek und bildungspolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion, nahm an der Anhörung teil. Sein Fazit: „Die Auseinandersetzung ist wichtig. Nicht nur aus historischem Interesse, sondern auch um Rassismus und strukturelle Benachteiligungen heute zu verstehen. Diskussionen über Benennungen und Statuen vor Ort zum Beispiel sind hilfreich, um zur Bewusstseinsentwicklung beizutragen. Was in der Auseinandersetzung oft fehlt, sind allerdings Stimmen aus den ehemaligen Kolonien.“

Auch im Süden Stormarns und im Kreis Herzogtum Lauenburg finden sich viele Erinnerungen an das koloniale Erbe, die zur Auseinandersetzung einladen. Das sieht Habersaat, vor seinem Einzug in den Landtag Geschichtslehrer, durchaus auch positiv: „Vor der Haustür liegende ‚Stolpersteine‘ sind ein guter Einstieg in das Thema. Manchem ist gar nicht klar, welche Bezüge es alles gibt. Wir alle kaufen bei EDEKA ein, aber wer weiß schon, was der Name bedeutet? Es war die Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler . Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass jede Generation selbst entscheiden darf, welche Personen und Einstellungen sie durch Straßennamen und Denkmäler würdigt. Oder welche Entscheidungen früherer Generationen sie kritisch beurteilt und vielleicht um Hinweisschilder oder Gegendenkmäler ergänzt.“ Gegenstand der Landtagsanhörung waren beispielswiese die historischen Persönlichkeiten Otto von Bismarck, Paul von Lettow-Vorbeck, Sönke Nissen und Heinrich Carl von Schimmelmann. Diskutiert wurde beispielsweise, ob die Sanierung eines Denkmals ein Eingriff in natürliche historische Abläufe sei oder ob die Entscheidung zur Nicht-Umbenennung einer Straße einer neuerlichen Entscheidung für den Namensgeber gleichkommt.

Der globale Norden nahm über mehrere hundert Jahre durch Vereinnahmung und Ausbeutung anderer Länder eine Vormachtstellung sein. Der Kolonialismus gründete auf einem Menschenbild, das die Weißen als überlegen betrachtete. In diesem Menschenbild liegen rassistische Narrative begründet, die auch heute noch ihre Gültigkeit haben. Und noch heute wird beispielsweise die afrikanische Landwirtschaft durch subventionierte Exporte aus Europa geschwächt. Mit dem Ersten Weltkrieg war es mit deutschen Kolonien vorbei. Der Prozess der Entkolonialisierung war für Deutschland damit weitgehend erledigt. Der deutsche Rassismus endete jedoch ebenso wenig wie der Wunsch nach dem „Platz an der Sonne“. „Das Deutsche Reich muss unbedingt den Erwerb von Kolonien anstreben. Im Reiche selbst ist zu wenig Raum für die große Bevölkerung. … Wir müssen für unser Volk mehr Raum haben und darum Kolonien.“ Das sagte der seinerzeitige Kölner Oberbürgermeister und spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer in seiner Eigenschaft als Vizepräsident der Deutschen Kolonialgesellschaft. Habersaat: „Der Umgang mit der eigenen Geschichte ist ein fortwährender Prozess. In manchen Bereichen ist Deutschland hier vorbildlich – aber wir sind nicht und werden niemals fertig.“

Das koloniale Erbe vor unserer Haustür:

Otto von Bismarck

Otto von Bismarck (1815-1898) war ein deutscher Politiker und Staatsmann. Von 1871 bis 1890 war er erster Reichskanzler des Deutschen Reiches, dessen Gründung er maßgeblich vorangetrieben hatte. Auf seine hin Einladung fand 1884/85 die Westafrika-Konferenz in Berlin statt, auf der die Grundlage für die Aufteilung Afrikas in Kolonien gelegt wurde. Afrikaner*innen wurden nicht beteiligt. Die willkürlich gezogenen Landesgrenzen lasten bis heute als schwere Hypothek auf dem Erdteil und seinen Menschen. Bismarcks Erklärung bei der Konferenzeröffnung, Ziel sei es, „den Eingeborenen Afrikas den Anschluss an die Zivilisation zu ermöglichen, indem das Innere dieses Kontinents für den Handel erschlossen“ werde, kann als Paradebeispiel kolonialistischer Weltsicht gelten.

In Hamburg gab und gibt es dieser Tage Kontroversen um den Umgang mit dem Bismarck-Denkmal am Hafen, das aufwendig saniert werden soll. Prof. Jürgen Zimmerer von der Forschungsstelle „Hamburgs (post-)koloniales Erbe“ nannte diese Sanierung einen Eingriff in historische Abläufe. Niemand habe das Recht auf ein eingefrorenes Geschichtsbild. Vor 100 Jahren seien es Hamburger Kaufleuten gewesen, die das Denkmal aufstellen wollten -mithin keine Frauen, Sozialdemokraten oder Menschen mit Migrationshintergrund. Für einen Erhalt solcher Denkmäler und gegebenenfalls ihre kritische Einordnung plädierte Prof. Ulrich Lappenküper von der Otto-von-Bismarck-Stiftung. Die Bundesstiftung hat ihren Sitz im historischen Bahnhofsgebäude Friedrichsruh. Ihre Aufgabe sieht die Stiftung darin, die „Leistungen der Jahrhundertgestalt Bismarck zu würdigen, ohne die Grenzen und Defizite seines Handelns zu ignorieren“. Die Bismarcksäule in Reinbek wurde um die Jahrhundertwende als Prototyp geplant und war das Modell für 47 nahezu identische Bismarcksäulen. Die Grundsteinlegung erfolgte Anfang Juni 1901. Die Einweihung fand am 21.06.1903 statt. Etwas älter ist der weiße Bismarckturm in Aumühle. In Reinbek gibt es zudem eine Bismarckstraße und eine Bismarckapotheke.

 Sönke Nissen
Sönke Nissen (1870-1923) war ein Eisenbahningenieur und Industrieller. Er kam beim Eisenbahnbau in den deutschen Kolonien in Afrika zu Wohlstand. Nachdem ein Streckenarbeiter auf Diamanten gestoßen war, gründete Nissen eine Schürfgesellschaft. Die Eisenbahn, für deren Bau Sönke Nissen in Namibia als Ingenieur verantwortlich zeichnete, diente dazu, das Land gegen die Aufstände der Herero und Nama unter Kontrolle zu halten. Die beim Bahnbau eingesetzten Zwangsarbeiter waren Kriegsgefangene, die von Nissens Firma in einem Lager gefangen gehalten wurden, bei schlechter Ernährung, unter unmenschlichen Bedingungen. Von 2014 zur Arbeit gezwungenen Herero und Nama starben 1359. Darüber hinaus starben viele Ovambos auf Nissens Minen der Bergbaugesellschaft. Sie waren, wenn sie sich „faul“ zeigten, Misshandlungen ausgesetzt.

Nach Deutschland zurückgekehrt, erwarb er 1912 das 500 Hektar große Gut Glinde, das er zu einem landwirtschaftlichen Musterbetrieb ausbaute. Seinen Mitarbeitern zahlte er, ungewöhnlich in jener Zeit, im Krankheitsfall den Lohn weiter, richtete ein Altenheim ein und betrieb durch den Bau von Arbeiterwohnungen eine Art frühen sozialen Wohnungsbau. In seiner nordfriesischen Heimat unterstützte er Deichbauprojekte (Sönke-Nissen-Koog).  In Glinde sind die Sönke-Nissen-Park Stiftung, eine Gemeinschaftsschule, eine Straße und ein Stamm der Christlichen Pfadfinder nach ihm bzw. seinem gleichnamigen Sohn benannt.

Paul von Lettow-Vorbeck

Paul von Lettow-Vorbeck (1870-1964) nahm als Adjutant 1900/01 an der blutigen Niederschlagung des Boxeraufstands in China teil. In der Kolonie Deutsch-Südwestafrika war er zwischen 1904 und 1906 als Erster Adjutant im Stab des Kommandeurs der Schutztruppe Lothar von Trotha und als Kompaniechef am Völkermord an den Herero und Nama beteiligt, unter anderem an der taktischen Planung der Schlacht am Waterberg. In der Folge dieser Schlacht wurden 60.000 Menschen, darunter Frauen und Kinder, in die Wüste Omaheke getrieben und von der Wasserversorgung abgeschnitten. Dieses Vorgehen der deutschen Seite wird in der Wissenschaft als Völkermord bewertet. Im Ersten Weltkrieg war Lettow-Vorbeck Kommandeur der Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika. Sein militärisches Vorgehen beruhte auf Terror und Zwang.

Die Lettow-Vorbeck-Kaserne in Bad Segeberg schloss 2008 endgültig ihre Tore, das Gelände wird heute als „Levo-Park“ vermarktet. In Aumühle steht seit 1955 ein Denkmal, das Lettow-Vorbeck flankiert von einem Soldaten der ostafrikanischen Hilfstruppen und einem indigenen Träger zeigt. Es befindet sich in Privatbesitz der Familie Bismarck. Am 8. Mai 1955 wurde es eingeweiht, die Festansprache hielt Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Kai-Uwe von Hassel (CDU).

Heinrich Carl von Schimmelmann

Heinrich Carl von Schimmelmann (1724-1782) war ein deutsch-dänischer Kaufmann und Sklavenhändler und -halter, der zu seiner Zeit einer der reichsten Männer Europas wurde. Schimmelmann erwarb 1759 von der Familie von Rantzau das Schloss Ahrensburg, das bis 1938 im Besitz der Familie blieb. Ebenso gehörte ihm das Gut Wandsbeck.

In Hamburg-Wandsbek gegenüber dem Wandsbeker Rathaus stand 2006 bis 2008 in einer neuangelegten Gartenanlage eine Schimmelmann-Büste,die nach Protesten entfernt wurde. In der Nähe gibt es auch eine Schimmelmannstraße.

Links:

Große Anfrage des SSW – Drucksache 19/1599

 

Ausgewählte Stellungnahmen zur schriftlichen Anhörung:

Otto-von-Bismarck-Stiftung (Umdruck 19/4527)

IQSH (Institut zur Qualitätsentwicklung an Schleswig-Holsteins Schulen (Umdruck 19/4573)

Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte (Umdruck 19/4697, u.a. zu Sönke Nissen)

Jürgen Zimmerer: Bismarck und der Kolonialismus

 

Landtagsrede – Wir sind noch nicht fertig