Eltern von drei Stormarner Gemeinschaftsschulen haben sich mit Brandbriefen an die Bildungspolitik gewandt. An der Selma-Lagerlöf-Gemeinschaftsschule in Ahrensburg, der Gemeinschaftsschule Reinbek und der Friedrich-Junge-Schule Großhansdorf fehlen Lehrkräfte. Fachunterricht findet nicht oder nicht bei Fachlehrkräften statt, Stunden fallen aus, Klassen müssen sich häufig auf wechselnde Lehrkräfte einstellen. Inzwischen sind zahlreiche Fächer betroffen. Der SPD-Landtagsabgeordnete Martin Habersaat lebt in Reinbek, ist selbst gelernter Lehrer und Vorsitzender des Bildungsausschusses. Er beantwortet die 10 wichtigsten Fragen zum Fachkräftemangel:
1: Wie viele Lehrkräfte fehlen?
Ein Blick in den Bericht zur Unterrichtssituation offenbart: 6,9 Prozent der Lehrkräfte an Gemeinschaftsschulen mit Oberstufe haben keine abgeschlossene Berufsausbildung. An Gemeinschaftsschulen ohne Oberstufe sind es 8,5 Prozent, an Förderzentren 12,8 Prozent und an Grundschulen sogar 14,1 Prozent. Über alle Schularten heißt das, das jede zehnte Lehrkraft in Schleswig-Holstein keine fertig ausgebildete Lehrkraft ist. Hinzu kommen ca. 200 unbesetzte Stellen und solche, die mit Lehrkräften besetzt sind, die für Unterricht nicht zur Verfügung stehen (Mutterschutz, Sabbatjahr, Erkrankung etc.).
https://www.landtag.ltsh.de/infothek/wahl20/drucks/00300/drucksache-20-00325.pdf, S.23
2: Warum ist die Lage an Gemeinschaftsschulen in Stormarn besonders schwierig?
Die Stormarner Gemeinschaftsschulen stehen in doppelter Konkurrenz: In der Nachbarstadt Hamburg werden Lehrkräfte besser bezahlt und finden ein attraktiveres Arbeitszeitmodell vor. Gleichzeitig durften die Gymnasien in Schleswig-Holstein in den letzten Jahren mehr Lehrkräfte einstellen, um sich nach der Rückkehr zu G9 auf den zusätzlichen 13. Jahrgang ab 2026 vorzubereiten. Die Entfernung zu den Universitäten Flensburg und Kiel ist groß. Hier werden die Lehrkräfte in Schleswig-Holstein ausgebildet, viele wollen nach ihrem Studium an der Ostsee bleiben. Darunter leidet die Westküste ebenso wie der Süden des Landes.
3: Was ist in Hamburg anders?
Für Lehrkräfte in Hamburg gibt es keine festen Pflichtstunden. Es gibt eine faktorisierte Arbeitszeit und dadurch eine unterschiedliche Unterrichtsverpflichtung je nach Schulform, Fächern, Schulstufen und besonderen Aufgaben in der Schule. Klassenlehrkräfte müssen weniger unterrichten, Lehrkräfte in der Oberstufe auch. Lehrkräfte an Gemeinschaftsschulen (Schleswig-Holstein) und Stadtteilschulen (Hamburg) werden mit A13 besoldet. In Hamburg sind das in der vierten Erfahrungsstufe 4961,23 €. In Schleswig-Holstein 4482,48 €.
Hamburg konnte zudem in den vergangenen Jahren wegen stetig steigender Schülerzahlen durchgängig einstellen, kann Interessenten verschiedene Schulen anbieten und verbeamtet oft schneller. Ich selbst habe das nach meinem Referendariat an der Sachsenwaldschule Reinbek 2006 erlebt.
4: Was ist an Gymnasien anders?
An den Gymnasien in Schleswig-Holstein müssen Lehrkräfte mit voller Stelle 25,5 Stunden in der Woche unterrichten, an den Gemeinschaftsschulen 27. Viele Lehrkräfte an Gemeinschaftsschulen empfinden die pädagogischen Herausforderungen als höher, weil Gymnasien „schwierige Fälle“ an Gemeinschaftsschulen „schrägversetzen“ dürfen. Die Möglichkeiten dazu hat Ministerin Prien in den letzten Jahren ausgebaut.
5: Welche Rolle spielt die Reform des Lehrkräfteausbildungsgesetzes?
Die Lage für die Gemeinschaftsschulen sieht auch deshalb so trübe aus, weil Bildungsministerin Prien in der letzten Legislaturperiode gegen den Rat von Fachleuten die Ausbildung von Gymnasial- und Gemeinschaftsschullehrkräften auseinandergerissen hat und das Land so weniger flexibel in der Nachwuchsgewinnung geworden ist. Dieses selbstverursachte Problem wird jetzt teilweise wieder zu beheben versucht, siehe „Februarpaket zur Lehrkräftegewinnung“. Ich selbst habe an der Universität Hamburg 2004 mein Staatsexamen im „Lehramt Oberstufe Allgemeinbildende Schulen“ (ohne Festlegung auf eine Schulart) erworben und hatte mich, nur vorübergehend erfolgreich, für ein entsprechendes Modell in Schleswig-Holstein eingesetzt.
6: Warum helfen Vertretungslehrkräfte nur bedingt?
Die Landesregierung weiß nicht, wie viele Vertretungslehrkräfte mit befristeten Verträgen an einem Quer- oder Seiteneinstieg in den Schuldienst interessiert sind. Und sie glaubt, diese Kräfte mit teils jahrelangen Erfahrungen auch nicht langfristig zu brauchen. Irgendwann werden diese Kräfte an die Luft gesetzt weil das Bildungsministerium fürchtet, sie könnten sich sonst einen unbefristeten Job erklagen. Das ist dumm, wie die aktuellen Berichte aus den Gemeinschaftsschulen zeigen. Wer sich bewährt hat und von der Schulleitung gewollt ist, braucht berufsbegleitende Weiterbildung und darüber einen planbaren Weg in den Schuldienst. Gerade in jüngster Zeit sind wieder drei studierte Musiker aus solcher Lage aus dem Hamburger Rand nach Hamburg abgewandert, weil ihnen dort serviceorientiert begegnet wird und ihnen Möglichkeiten eröffnet werden. Jetzt findet deren Musikunterricht an Hamburger Schulen statt.
https://www.martinhabersaat.de/2023/06/05/geht-das-land-mit-vertretungslehrkraeften-richtig-um/
7: Wie ist die Prognose für Deutschland?
Die KMK rechnet 2025 mit 20.130 fehlenden Lehrkräften, 2030 mit 13.380. Dabei fehlen vor allem Grundschullehrkräfte und Sonderpädagog*innen. Klaus Klemm stellt fest, dass bei den Bedarfszahlen Entwicklungen wie Inklusion, Ganztag und die Förderung von Brennpunktschulen unberücksichtigt geblieben sind und die Angebotsseite nicht valide berechnet ist. Besonders in den MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) werde nur ein Drittel der Stellen fachlich adäquat besetzt werden können. Klemm kommt für 2025 eine Lücke von 45.000, 2030 schon auf eine von 81.000. Dramatisch sieht es auch für einzelne Fachrichtungen an den Beruflichen Schulen aus.
8: Wie ist die Prognose für Schleswig-Holstein?
Das Lehrkräftebedarfsanalysetool der Landesregierung zeigt: Es wird eng, vor allem an den Grundschulen und Gemeinschaftsschulen werden Fachkräfte fehlen. Aber auch in bestimmten Fächern sieht es düster aus, etwa in Mathe und Physik. Stellt man den Lehrkräftebedarf bis 2032 den aktuellen Studierendenzahlen gegenüber, ergeben sich für die einzelnen Fächer an Gemeinschaftsschulen folgende Deckungsquoten: Deutsch: 38% (1.005 frei werdende Stellen vs. 378 Hochschulabgänge), Geschichte: 27% (389 vs. 103), Mathematik: 24% (240 vs. 1.005), Musik: 31% (229 vs. 71), Physik: 28% (317 vs. 87).
https://www.martinhabersaat.de/2023/02/07/lehrkraeftebedarf-in-schleswig-holstein/
9: Was können die Schulträger tun?
Reinbek hat seiner Gemeinschaftsschule gerade eines der modernsten Schulgebäude Deutschlands gebaut. Mit einem attraktiven Arbeitsort allein ist es aber nicht getan: Gerade in Städten und Gemeinden im Hamburger Umland fehlen oft Kita-Plätze. Auch ist es hier besonders schwer, bezahlbaren Wohnraum für junge Familien zu finden. Das sind aber durchaus Punkte, auf die junge Lehrkräfte bei der Wahl ihrer Schule achten. Und momentan ist es tatsächlich so, dass eher die Lehrkräfte die Wahl haben als die Schulen. Ein Beispiel: Neubaugebiete werden oft für „Kinder der eigenen Kommune“ ausgeschrieben. Neue Lehrkräfte wohnen aber nicht bereits in dieser Kommune und können sich in der ersten Runde oft nicht bewerben.
10: Was kann das Land tun?
Kurzfristig muss der Umgang mit Vertretungslehrkräften professioneller werden. Außerdem kann die Ministerin mit regionalen Zulagen (gibt es für Referendare in manchen Regionen schon, aber nicht für Stormarn) und Abordnungen zu steuern versuchen. Mittelfristig müssen die Arbeitsbedingungen für Lehrkräfte an Gemeinschaftsschulen und Gymnasien angeglichen werden. Auch die Entfernung zum Hamburger Niveau darf nicht zu groß werden. Klassenlehrkräfte brauchen Entlastung und Raum für Pädagogik. Das hat die SPD mehrfach beantragt, leider vergebens. Die Hochschulen müssen praxisnäher ausbilden und Studierende nicht am „falschen“ Stoff scheitern lassen. (Wer Mathe studiert und Grundschullehrkraft werden möchte, sollte das Studium nicht bestehen, wenn er oder sie nicht mit Kindern umgehen kann. Wenn die Mathekenntnisse nicht zu einer Hochschulprofessur reichen, wäre das weniger schlimm). Auch in Referendariat und Berufseingangsphase braucht es weniger Druck und mehr Unterstützung.