Studien und Politik
Studie: Das AfD-Paradox: Die Hauptleidtragenden der AfD-Politik wären ihre eigenen Wähler*innen
https://www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.879721.de/diw_aktuell_88.pdf
Von: Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW).
Auftrag:
Das DIW ist Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft und wird in diesem Rahmen mehrheitlich durch Bund und Länder finanziert – eine weitere Einnahmequelle sind Projektförderung sowie Auftragsforschung. Diese Kurzstudie veröffentlichte das DIW selbst.
Veröffentlichung: August 2023
In zwei Sätzen:
Menschen, die die AfD unterstützen, würden am stärksten unter der AfD-Politik leiden, und zwar in Bezug auf fast jeden Politikbereich: Wirtschaft und Steuern ebenso wie Klimaschutz, soziale Absicherung, Demokratie und Globalisierung.
Meine Zusammenfassung:
Die Partei Alternative für Deutschland (AfD) hat sich seit ihrer Gründung im Jahr 2013 immer stärker radikalisiert. Angetreten als europakritische Partei verschob sie spätestens 2015 den Fokus auf migrations- und flüchtlingsfeindliche Positionen. Bei der Bundestagswahl 2017 gelang ihr mit einem Stimmenanteil von 12,6 Prozent erstmals der Einzug in den Bundestag. Das Ergebnis fiel zwar bei der folgenden Bundestagswahl mit 10,3 Prozent etwas geringer aus. Doch aktuelle Umfragen mit Zustimmungswerten von mehr als 20 Prozent signalisieren, dass die vom Verfassungsschutz als rechtsradikaler Verdachtsfall eingestufte Partei mit immer extremeren Ansichten ihre Zustimmungsbasis bei den Wähler*innen verbreitern kann.
In einem ersten Schritt arbeitet Fratzscher heraus, wer die AfD wählt: Der typische AfD-Wähler ist männlich, zwischen 45 und 59 Jahren alt und eher gering bis mittelhoch gebildet. Die Unzufriedenheit über das eigene Leben und über den Zustand von Wirtschaft und Gesellschaft ist unter AfD-Wähler*innen deutlich höher als im Durchschnitt aller Wähler*innen. Die AfD schneidet besser in Wahlkreisen ab, in denen die Perspektivlosigkeit groß ist, die Chancen für junge Menschen gering sind und durch deren Abwanderung wichtige Infrastrukturen für Familien und Kinder – und damit auch für Unternehmen – schlechter werden oder verschwinden.
In einem zweiten Schritt werden die 38 Fragen und die Antworten der Parteien zur Bundestagswahl 2021 für den Wahl-O-Maten ausgewertet. Die Analyse zeigt, für welche Politik die AfD steht: zum Beispiel für eine extrem neoliberale Wirtschafts- und Finanzpolitik. Sie setzt sich in fast allen Bereichen für Steuersenkungen, wie neuerdings bei der Erbschaftsteuer, und gegen Steuererhöhungen ein. In der Kategorie Sozialpolitik wünscht sich keine Partei im Bundestag stärkere Einschnitte bei den Sozialleistungen als die AfD. So spricht sie sich beispielsweise gegen eine Stärkung der Rechte von Mieter*innen aus. Auch hat sie sich 2021 gegen die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro ausgesprochen. Zudem will sie Langzeitarbeitslose zu Bürgerarbeit zwangsverpflichten. Bei der Klimapolitik gibt es keine Partei, die Maßnahmen zum Schutz von Umwelt und Klima systematischer ablehnt als die AfD. In der Gesellschaftspolitik unterscheidet sich die AfD am stärksten von den anderen Bundestagsparteien. So will die AfD die Rechte und Freiheiten vor allem für Minderheiten beschneiden.
Fazit Fratzscher: Die Widersprüche zwischen den Interessen der AfD-Wähler*innen und den Positionen der AfD könnten kaum größer sein. Steuersenkungen für die Spitzenverdiener*innen, niedrigere Löhne für Geringverdiener*innen und eine Beschneidung der Sozialsysteme würden AfD-Wähler*innen viel stärker negativ treffen als die Wähler*innen der meisten anderen Parteien. Würde sich die AfD-Politik durchsetzen, käme es zu einer Umverteilung von Einkommen und sozialen Leistungen von AfD-Wähler*innen hin zu den Wähler*innen anderer Parteien.
Und warum wählen die Leute die AfD trotzdem? Fratzscher erklärt das damit, dass viele AfD-Wähler*innen nicht realisieren, dass eine Politik der Diskriminierung und Ausgrenzung sie selbst stark negativ betreffen würde. Denn sie selbst gehören häufig zum unteren Rand der Einkommensverteilung, genießen seltener Privilegien, haben weniger Chancen als andere und sind stärker auf finanzielle Leistungen des Staates angewiesen. Die kollektive Fehleinschätzung der AfD-Wähler*innen besteht in dem, was der Zeit-Journalist Nils Markwardt „Verblendungszusammenhänge“ nennt. Hierbei geht es im besten Falle um eine verzerrte Wahrnehmung der Realität und im schlimmsten Falle um irre Verschwörungstheorien, bei denen sich AfD-Wähler*innen als Opfer von Politik und Gesellschaft darstellen und sich selbst als Mehrheit beschreiben. Nicht wenige AfD-Wähler*innen sind überzeugt, dass eine Rückabwicklung der Globalisierung, ein erstarkender Nationalismus sowie eine neoliberale Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik ihnen persönlich bessere Arbeitsplätze, mehr Sicherheit und bessere Chancen verschaffen würden. Dabei würde genau das Gegenteil passieren.
Mein Fazit:
Die demokratischen Parteien stehen im Wettbewerb untereinander und kritisieren sich und ihre Konzepte, stellen im besten Fall eigene Konzepte dem jeweiligen Regierungshandeln entgegen. Es braucht aber noch einen Schritt mehr: Es muss immer wieder auch darstetellt werden, welche Folgen die AfD-Politik für Deutschland hätte. Die AfD ist in Teilen faschistisch. Da es sich offenbar für einen Teil der Menschen nicht mehr von selbst verbietet, Faschisten zu wählen, muss deren Politik mit Blick auf das Jahr 2023 kritisiert werden und nicht ausschließlich mit dem Verweis auf 1933-1945.
Übrigens:
Zum politischen Umgang mit der AfD habe ich im Juli 2023 einen „Einwurf“ geschrieben: https://www.martinhabersaat.de/2023/07/29/zum-politischen-umgang-mit-der-afd/
Links:
AfD als Verdachtsfall für den Verfassungsschutz: https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2022/pressemitteilung-2022-1-afd.html
Björn Höcke darf als „Faschist“ bezeichnet werden: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-09/afd-bjoern-hoecke-faschist-verwaltungsgericht-meinigen?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F